14. November 2002
„Ich kann einfach nicht mehr, bring mich bitte von hier weg…“
für mehr Worte reichte es damals nicht mehr! Es war der 14. November 2002, als ich am frühen Nachmittag, so gegen 14 Uhr meine Tante anrief und ihr diese Worte nur noch kraftlos und endlos verzweifelt durchs Telefon entgegen schluchzen konnte.
Mehr brauchte es aber auch nicht. Meine Tante schmiss den Hörer aufs Telefon, stürzte sofort aus der Praxis, in der sie gearbeitet hatte und raste zu mir. Sie hatte auch ohne große Reden verstanden, dass es ernst war… sie sorgte sich schon seit Wochen um mich. Das merkte ich daran, dass sie mich nahezu täglich anrief und sie häufiger vorbei kam als sonst.
Innerhalb kürzester Zeit klingelte sie Sturm an unserer Haustüre und ihr schossen heiße Tränen in ihre Augen als ich ihr öffnete und sie mich in meinem Zustand sah. Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst; rot verweinte Augen, tiefe dunkelblaue Ringe unter den Augen, leichenblass und hohläugig blickte ich ihr völlig kraftlos entgegen. Ich wog bei einer Körpergröße von 1,70m nur noch 47kg. Meine Verletzungen versteckte ich vor ihr doch sie hatte auch so genug gesehen, nahm mich in den Arm und hielt mich fest. Sie konnte spüren, dass ich körperlich aber vor allem psychisch völlig am Ende war und sah wohl nur noch einen einzigen Ausweg, mir zu helfen.
Sie versprach mir, mich von hier wegzubringen und in meinen Gedanken, dachte ich daran, dass ein paar Tage Urlaub und die damit verbundene Erholung gut tun würde. Mal ein paar Tage nicht die volle Verantwortung für mich und mein Kind tragen zu müssen, sich um nicht viel kümmern zu müssen aber vor allem weg von diesem narzisstischem Mann, der keine Gelegenheit ausließ um mich zu demütigen und mich zu verletzen…körperlich aber vor allem seelisch…-mit ihm war ich seit etwa eineinhalb Jahren zusammen, nachdem mein Mann und ich uns getrennt hatten.
Ich wollte an einem kleinen Hotelpool ein paar Sonnenstrahlen auftanken, zur Ruhe kommen und der Rest würde sich dann finden, wenn ich mich ein wenig ausgeruht haben würde.
Während ich ein paar Sachen zusammenpackte klingelte es wieder und ich fand mich nach dem öffnen der Tür, meiner Mutter gegenüber. Ich wunderte mich zwar, warum sie ausgerechnet jetzt gekommen war, ließ sie aber herein obwohl wir seit Jahren nur das nötigste miteinander sprachen. Sie sagte, sie würde meinen Sohn aus der Kita holen und ihn mit zu sich nach Hause nehmen, bis es mir besser ging und ich ließ es geschehen, dass sie im Kinderzimmer seine Sachen packte, als es schon wieder an der Tür klingelte. Meine Schwester stand besorgt vor der Tür und langsam verstand ich wirklich nicht mehr, warum auch sie hierher gekommen war, sie alle sollten doch eigentlich auf ihrer Arbeit sein…
Als ich fertig mit packen war, bat meine Schwester, mitkommen zu dürfen und so stiegen wir, nachdem wir uns von unserer Mutter verabschiedet hatten, in das Auto meiner Tante und ich ließ völlig übermüdet, den Kopf an die kühle Scheibe sinken, während ich darüber grübelte, welches Urlaubsziel wohl das geeignetste wäre und ich hoffentlich ein Last Minute Ticket, direkt am Flughafen buchen konnte
Ich war zwar vermutlich kurz weggenickt, dennoch begriff ich, dass wir um bereits den Flughafen erreicht zu haben, nicht lange genug unterwegs gewesen waren. Wir parkten auf einem ruhig gelegenen Parkplatz, hinter einem grossen, in die Jahre gekommenen, weißen Gebäude, dass ich nicht zuordnen konnte. Die Fenster waren vergittert und in einer Ecke, neben einem Eingang, standen zwei Krankenschwestern, die sich unterhielten und sich eine Zigarette teilten. Ich hatte vor zwei Wochen mit dem Rauchen aufgehört. Nicht weil ich es wirklich unbedingt gewollt hätte, eher ging es mir darum, mir zu beweisen, dass ich die Kontrolle über mich noch nicht verloren hatte und ich noch immer frei über mich entscheiden konnte. Was für ein Irrsinn, sich daraus auch nur im Ansatz irgendetwas erschließen zu wollen…Aber in diesem Moment wäre mir jede Zigarette aus der Hand gefallen, weil mir selbst dafür die Kraft gefehlt und ich vermutlich eher unsere Wohnung in Brand gesteckt hätte.
„Wir sind da“,
meine Tante flüsterte regelrecht, als sie vorsichtig meine Reaktion abwartete
„Du brauchst Hilfe, Vanessa! Und die bekommst du hier. Ein Urlaub wird dir nicht helfen. Hier sind Ärzte, die sich um dich kümmern werden“
Stille Tränen rannen mir übers Gesicht und ich hätte am liebsten vor lauter Verzweiflung geschrien aber dazu fehlte mir schlichtweg die Kraft. Hilflos schaute ich zu meiner Schwester, die ebenfalls weinte und in kürzester Zeit, spiegelten sich hinter meinen geschlossenen Augen all die Bilder der letzten Wochen wieder ab, wie sehr ich um mich gekämpft hatte, dabei so viele Menschen von mir weggestoßen habe, die mir helfen wollten weil sie instinktiv gespürt haben, dass alles langsam über mich zusammenbricht und ich mich immer mehr zurückgezogen hatte.
Inzwischen weinte ich und versuchte meine Familie davon zu überzeugen, mich wieder mitzunehmen. Ich versprach mit Engelszungen, ich würde mich zusammenreißen, wieder mehr zu essen und dann würde es mir bestimmt schnell besser gehen. Ich bettelte, mich nicht einfach wegzusperren, schrie, dass damit meine Probleme auch nicht gelöst werden könnten und unterstellte ihnen, mich einfach nur loswerden zu wollen. Doch meine Tante ließ sich nicht auf diese emotionale Erpressung ein und blieb konsequent und half mir beim aussteigen ohne meine Hand dabei auch nur ein einziges Mal loszulassen
Ein Auto hielt neben uns und ich erkannte den Freund meiner Schwester, der bedrückt Ausstieg und mir einen Teddybär in den Arm legte.
„Damit du nicht ganz allein bist,“
war alles was er sagte, bevor ich mit meiner Tante an meiner Hand durch die schwere Holztür eintrat und eine Krankenpflegerin schon auf uns zu kam. Ich drehte mich noch einmal kurz um und sah im Augenwinkel, wie meine Schwester mit ihrem Freund, in seinem Auto wegfuhr und fühlte mich mit einem Mal, von allen verlassen und allein und schlagartig wurde mir klar wo ich war
Ich war in einer Psychiatrie
Die Pflegerin führte uns in ein kleines Untersuchungszimmer, in dem schon der diensthabende Arzt auf uns wartete und mich freundlich fragte, ob ich die Aufnahme nicht lieber allein machen wollte. Ich drückte die Hand meiner Tante nur fester und signalisierte damit, dass sie bleiben sollte. Er untersuchte und verarztete meine Verletzungen, stellte mir einige Fragen und bat mich, einen Aufnahmebogen auszufüllen, was jedoch meine Tante für mich übernahm, weil ich immer wieder anfing zu weinen und ich das Papier nicht völlig mit meinen Tränen aufweichen wollte.
Das Ganze dauerte vielleicht 20 Minuten als er meine Tante bat, sich jetzt zu verabschieden, dass man sich morgen melden würde und dann weitersehen, wie sich alles entwickeln würde
Ich wollte meine Tante nicht loslassen, als sie mich umarmte und mir nochmal versprach, dass es das richtige sei und sie mich sehr liebte. Sie machte sich los und ging, drehte sich nicht mehr um und doch konnte ich sehen, wie schwer es auch ihr fiel, mich zurückzulassen.
Die Pflegerin, die sich jetzt als Schwester Dorothea vorstellte, nahm meine Tasche und brachte mich auf die Station. Es war die geschlossene, psychiatrische Station zur Intensivüberwachung und all meine Sachen inklusive ich selbst, wurde untersucht ob sich etwas an mir oder in meinem Gepäck befand, mit dem ich mich selbst oder andere hätte verletzen können. Selbst die BH‘s mit Bügel im Cup wurden mir weggenommen und meine Gesichtsreinigung, Deo und alles, was in Glasflacons gefüllt oder alkoholischen Inhalt hatte, durfte ich für die Verweildauer, nur noch unter Aufsicht benutzen und die Inhalte wurden markiert. Ich verstand erst viel später wieso. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, Gesichtswasser oder Parfüm zu trinken aber ich ergab mich klaglos und händigte einfach die gesamte Tasche aus und unterschrieb das aufgelistete Protokoll, mit einem Stift, den ich selbstverständlich auch sofort wieder abgeben musste
Man zeigte mir den Aufenthaltsraum, den Speiseraum und schließlich mein Zimmer. Wobei Zimmer, es nicht so richtig trifft. Es war eher ein Schlafsaal. Ein großer Raum mit sechs Betten, die jeweils in einer Dreier Reihe links und rechts an den Wänden standen. Zwei große, von außen vergitterte Fenster lagen gegenüber vom Eingang und links neben der Eingangstür war eine Reihe mit schmalen Schränken, wie man sich klassisch aus Krankenhäusern kennt. Gleich rechts neben der Tür begann eine riesige Glasscheibe, die den Blick auf den gesamten Raum sicherstellte und die das „Überwachungszentrum“ des Pflegepersonals umrahmte und sie somit Aussicht und damit die Kontrolle über alle Räume hatten. Der kleine Waschraum mit Dusche und Toilette war der einzige uneinsichtige Ort. Ohne Spiegel und nicht abschließbar
Ich wollte mich nur noch ins hinlegen und lehnte es dankend ab, als das Signal fürs Abendessen gegeben wurde. Und so lag ich völlig erschöpft auf meinem Bett hinter der Glaswand, den Teddy im Arm und konnte nicht glauben, wie schnell das alles ging, weinte um meinen Sohn und war mir der gesamten Tragweite dessen, was heute beginnen würde überhaupt nicht bewusst….